Luise Fötsch
DER SOLDAT
Waffenruh. Keiner mehr da, der auf den zielen könnte, den er unter anderen Umständen vielleicht seinen Bruder genannt hätte. Tiefe, laue Nacht. Und ein Sternenhimmel wie zur Friedenszeit. Mondlicht.
Er saß am Rande des Schlachtfeldes. Mutterseelenallein. Wo mochte sie jetzt wohl sein, die Mutter? Welchen Rat würde sie ihrem Fleisch und Blut wohl erteilen? Wie lange hatte er ihn nicht gehört, den Rat der guten Mutter?
Stille. Beinahe aufdringlich. Ein Segen nach dem Lärm jenes Geräts, das Menschen erfunden hatten um ihresgleichen zu vertilgen. Doch die Stille hatte ihren Preis. Sie alle waren nicht mehr. Sie alle, die sich Kameraden genannt hatten. Feind genannt hatten. Sie alle, die Menschen gewesen waren.
Er hatte den Wahnsinn überlebt. Gab es außer ihm noch jemanden? Sein Blick ruhte auf den Leibern, die die Nacht gnädig bedeckte. Das Antlitz des Hasses, hier offenbarte es sich. Im Mondenschein waren alle Waffenröcke grau. Konnte nicht mehr unterschieden werden zwischen Freund und Feind. Wie lange saß er bereits hier? Inmitten der gewollten, angeordneten Vernichtung? Der Ruf hatte sie ereilt und sie waren ihm gefolgt. Für ein Vaterland. Für eine Parole. Für einen, der sich besser und klüger wähnte als der Rest „seines“ Volkes. Für jene Kriegshetzer, die jegliches Leben ohne Skrupel opferten. Für eine größenwahnsinnige Idee.
Ob die Mutter noch lebte? Und warum hatte das Schicksal ihn verschont? Warum war er noch im Diesseits? Um Zeuge zu sein für Grausamkeiten, die jenseits der menschlichen Vorstellungskraft lagen? Um daran zu zerbrechen? Durfte er sich nun Kriegsveteran nennen? Nach dieser Hölle? Sie hatten die Waffen gesegnet. Auch seine. Hatten sie jenem Gott geweiht, den sie angefleht hatten, ihnen zum Sieg zu verhelfen. Sie alle hatten ein Vaterunser vor der Schlacht gebetet. Auch er. Und jetzt? Sollte er es abermals beten? Zum Dank für sein Leben?
Die Schulter tat ihm weh. Doch er wollte die Verwundung nicht in sein Bewusstsein dringen lassen. Irgendwie war sie passiert. Irgendwann hatte er den Schmerz verspürt. Und ihn ausgeblendet. Ein Tier zog sich zurück und leckte seine Wunden. Für ihn gab es keinen Ort, der ihn lockte. So saß er hier am Rande des Schlachtfeldes und schaute wie gebannt die Gefallenen an. Der Kampf war vorbei. Auch für ihn. Was verteidigte er eigentlich mit seinem Leben? Wusste er es noch? Oder hatten ihm die Jahre seinen Glauben geraubt? Die Heimat war fern des Herzens. Fern des Empfindens. Fern der Sehnsucht. Dies hier war die Wirklichkeit. Wohin also sollte er gehen? Mit seinen Wunden?
Plötzlich war es da. Verwundert sah er es an, wähnte sich verrückt. Jetzt war es so weit. Sein Verstand verließ ihn. Narrte ihn. Er bildete sich doch tatsächlich ein, ein Kind vor sich zu sehen. Ein Kind! Seine Halluzination war ein kleines Mädchen mit gelockten Haaren. Es trug ein Kleidchen mit einer Weste darüber. Er schloss die Augen, verharrte ein paar Sekunden und öffnete sie wieder. Doch das Trugbild war noch immer hier. Falls seine Sinne ihn nicht täuschten und dieses überirdische Wesen in der Realität bestand – woher kam es so unerwartet? Die Kleine war im Mondlicht allerliebst anzuschauen. Ein Schleifchen zierte ihr Haar. Wie alt sie wohl sein mochte? Vier? Fünf?
„Wer bist denn du?“, fragte er heiser. Doch das Kind schaute ihn nur an. Mit großen, wachen Augen. Ob es ein verirrtes Flüchtlingskind war? War die Familie mit seiner Armee mitgeflohen? Bevor der Feind ihrer habhaft werden konnte?
„Wo ist deine Mama?“
„Weiß ich nicht…“ Die Stimme klang hell und glockenrein.
„Und dein Papa?“
„Im Himmel beim lieben Gott.“
„Wie heißt du?“
„Ich heiße Anna.“
„Aha…“ Zu mehr war er im Moment nicht fähig. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Er musste sie ordnen. Seiner Überraschung Herr werden. Sich auf die neue Situation einstellen. Der Flüchtlingsstrom – war er aufgerieben worden? Eingeholt vom feindlichen Heer? Und die Mutter der Kleinen? Ob sie noch lebte?
„Wie ist dein Familienname?“
„Weiß ich nicht…“
„Und woher kommst du?“
„Weiß ich nicht…“
War sie nicht alt genug, um Nachname und Heimatstadt zu wissen? Schon wollte er nachhaken, als ihm bewusst wurde, was das Kind durchgemacht haben musste. Das Entsetzen packte ihn an. Er als Erwachsener tat sich schwer genug, die furchtbaren Eindrücke und Erlebnisse zu verarbeiten. Was also musste in der Kleinen vor sich gehen? Womit musste sie fertig werden? Die Mutter war entweder tot oder verschollen. Einerlei. Freiwillig hätte sie ihr Kind nie im Stich gelassen. Eine liebevolle Mutter, die in höchster Gefahr ihrem Kind das Haar frisierte und es band. Das rührte ihn. Schon lange hatte ihn nichts so berührt wie diese Schleife. Und jetzt? Kein Mensch weit und breit, der sich um das Mädchen kümmerte. Gott allein wusste, wie lange es bereits umherirrte. Über Schlachtfelder ging. Es war ein Wunder, dass es noch am Leben war. Und ihn dünkte, dass nun er gefordert war. Anna war auf die Hilfe einer alten Frontsau angewiesen. Eine alte Frontsau, ja, das war er wohl. Ganz vulgär ausgedrückt. Und nun hatte er ein Kind an seiner Seite. Es war unfassbar.
Die Kleine starrte ihn eindringlich an. Ihr Blick ließ ihn schauern. Was hatten diese Augen wohl gesehen? Was hatten seine Augen gesehen? Zu viel, großer Gott, zu viel. Reue überkam ihn. Warum hatte er sich nicht geweigert, damals, als der Einberufungsbefehl gekommen war? Weil sie ihn sofort exekutiert hätten? Nun musste er dafür geradestehen. Vor einem unschuldigen Kind, dem das Grauen zur aberwitzigen Heimat geworden war. Es ließ sich nicht ermessen, welchen Schaden es davontrug. Aber es war am Leben. Genau wie er. Und beide hatten sie nicht mehr als dies nackte, armselige Leben. Und eine Schleife als Vermächtnis einer Mutter. Tränen stiegen in ihm hoch, die er zu unterdrücken suchte. Er musste jetzt funktionieren. Genau jetzt. Die Kleine und sich selbst in Sicherheit bringen. Sie und sich selbst versorgen. Durch das Niemandsland seiner Seele spazierte ein kleiner Mensch. Arglos und unbedarft. War einfach da. Und die Wunde? Ach, vielleicht war sie nicht so schlimm. Er musste den Schmerz erdulden. Stark sein. Er hatte plötzlich eine Aufgabe. Eine, die Sinn machte. Mehr Sinn, als Menschen zu hassen, weil es irgendjemand befahl.
Mühsam erhob er sich. Doch, die Wunde schmerzte. Er musste sie erträglich halten, durfte die Schulter nicht belasten. Anna beobachtete jede seiner Bewegungen. Plötzlich stellte sie sich neben ihn und schob ihre Hand in seine: „Anna mit.“ Er spürte den zarten Druck der kleinen Hand, ihre Wärme. Und ihm war, als hätte sie sein Innerstes ganz sacht berührt. Diesmal rollten ihm die Tränen über die Wangen, er war machtlos gegen sie. Die Kleine wartete. Wartete auf den ersten Schritt des Mannes.
„Komm“, sagte er leise und merkte, wie sein Soldateninstinkt erwachte. Angestrengt lauschte er in die Nacht. Er musste sich zu den Kameraden durchschlagen. Mit dem Kind. Schleichwege finden. Deckung suchen. Der Schutz der Nacht war sein Verbündeter. Wohin sollte er gehen? Er musste einen Bogen um den Feind machen. Durfte ihm nicht in die Hände fallen. Seine Muskeln spannten sich, sein Kopf war wach, seine Gedanken klar. Er würde dieses Kind durchbringen. Er musste es. Versagen ausgeschlossen. Ein letztes stummes Stoßgebet gen Himmel. Ein inbrünstiges Versprechen an die Mutter. Wo immer sie auch sein mochte. Das Kind schwieg. Doch von ihm ging eine Kraft aus, die sich auf ihn übertrug. Er spürte die Leichtigkeit des Frühlings, spürte, wie sie sich mit seiner Erfahrung verband. Und so gingen sie los. Der altgediente Soldat und das kleine Mädchen. Er wusste nicht, was auf sie wartete. Doch sein Schritt wurde fester. Sein Gang aufrechter. Er straffte die Schultern. Und Anna sah zu ihm auf. Demut überkam ihn. Das Schicksal gab ihm einen Grund, ins Leben zurückzukehren. Und wenn sie das hier überlebten, mein Gott, wenn sie das hier überlebten… Spielzeug wollte er ihr schenken und lernen, selbst eine Schleife ins Kinderhaar zu binden. Und so gingen sie voran. Hand in Hand einem neuen Morgen entgegen.